Erstbegehung: „Stalingrad“ – 2 Pickelschläge über die Grenze und zurück

27Martin Feistl und David Bruder gelang im Dez. 2020 eine lange und schwierige Mixedlinie an der Grubenkarspitze im Karwendel. „Es ist meine eindrücklichste Kletterei gewesen, die so gnadenlos unkalkulierbar meine mentalen wie körperlichen Grenzen ausgelotet hat.“
Zustieg: Martin: „Mit Fahrrädern 14 km bis zum Ende der eingeschneiten Straße geschlittert. Am nächsten Tag, nach einem Biwak, mit Berg-schuhen in der Ski-Bindung über den Talboden etwa 1 Stunde lang bis unter die Wand ge-wackelt. Kurz vor halb 9 Uhr starteten wir ohne Seil in die Eisspur am Vorbau. Irgendwann ban-den wir uns ein und David wühlte los. Un-glaublich wie steil man ,Schnee locker stapeln kann‘. ,Ich hoffe wirklich niemals mehr so knapp über die, unter Extremsportlern oft gesuchte, meist erst zu spät gefundene Grenze zu stolpern‘, dachte ich beim Vorstieg. ,Jetzt kommt der einfache Teil‘, sagte David und etwas mit Schneerinne und Stapfen. Nach 20 Metern artete es wieder in Schnee-Gewühle aus, das mich zur klettertechnischen Schlüssellänge brachte – einem etwa vier Meter hohen Überhang. Mein Hoffen, dass eigentlich David dran wäre mit Vorsteigen, ging nicht in Erfüllung. Nach dem Standplatz ließ sich im Dachwinkel ein perfekter Totem (red. Cam) legen. Ich traversierte an einer brüchigen Untergriff-Schuppe nach links an die Dachkante, konnte nochmals einen kleinen Totem legen und ein Eisgerät im semi-vertrauenserweckenden Eis über dem Dach platzieren. Das andere Gerät weit unterhalb noch irgendwo verkeilt, hing ich nun da. Nach minutenlangem Zögern ließ ich endlich die Füße rausschwingen, blockte zwei, drei Mal in besseres Eis durch und zog die Füße hinterher, bis ich ein Knie über die Dachkante wuchten konnte. Zeitgleich begann ein Spindrift von oben mein Gesicht einzueisen, genau in dem einen Moment, in dem es kein Zurück mehr gab.
csm_stalingrad-grubenkarspitze-karwendel-eisklettern-19_683ace0977Es folgten weitere acht lange Seillängen zwischen 60 und 90 Metern in unspektakulärem Gelände. Viel Stapferei (endlich!) aber mit ,eingestreuten‘ Stufen, die in Kombination mit dem weniger werdenden Eis und höherer Pulverschneeauflage immer nerviger wurden, schlecht oder gar nicht abzusichern waren und einfach unglaublich viel Zeit in Anspruch nahmen. Um 20:45 Uhr erkannten wir, dass das, was wir für das Ende unserer Linie gehalten hatten, eine bei Nacht unüberwindbar scheinende senkrechte Abschlusswand war. Zwei Seillängen unter dem „Erfolg“ unserer Erstbegehung umdrehen wollten wir nicht. Aber vorsteigen, mit schlechter oder keiner Absicherung ins Unbekannte klettern, konnte ich auch nicht mehr. David übernahm die vorletzte 16. Seillänge – 20 Meter in eine einladend wirkende geräumige Höhle hinauf. Doch mit dem lockeren Pulverschnee auf den geschlossenen Platten kam er nicht weiter, suchte links und rechts nach Möglichkeiten, auch mit dem Fuß in der Schlinge stehend, miese Messerhaken über dem Kopf schlagend, höher steigend und mitsamt dem Haken wieder zurück ins Schneefeld stechend. Ich konnte meine Augen nicht mehr offen halten. Ab und zu schreckte ich hoch, wenn David zum wiederholten Male fluchend mit funkensprühenden Steigeisen über die Platte segelte.
Nach einer Stunde hatte ich mich genug erholt, um Davids Don Quijotische An-strengungen mit anfeuernden Worten zu unterstützen. Nach etwa zwei Stunden und einer freien Begehung im Nachstieg meinerseits, war mein Sportkletter-Ehrgeiz wieder geweckt: ,Ich schau da noch hoch.‘ 55 Meter durch einen aufgestapelten Bruchhaufen folgten, mit einigen wundervoll singenden Haken und einem perfekten Cam-Placement nach dem anderen. Beschwingt von so viel Sicherheit, wie den ganzen Tag noch nicht, bei überraschend einfachem Gelände, wühlte ich mich im mittlerweile einsetzenden Schneefall hinauf. Um 23:30 Uhr waren wir beim Ausstieg aber noch nicht am Ende dieser Tour.“
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Erstbeg. in knapp über 15 Stunden, 1000 Klettermeter, M8 u. WI7 (der höchste Eisgrad).